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Genetischer Sedimentwurm-Index nimmt weitere Hürde

16. Mai 2024, Thema: Sedimentökotoxikologie

Genetischer Sedimentwurm-Index nimmt weitere Hürde

Lebensgemeinschaften von Oligochaeten im Feld können Auskunft über die Sedimentqualität geben, aber nicht alle Tiere lassen sich unter dem Mikroskop bestimmen. Forschende des Oekotoxzentrums haben eine genetische Bestimmungsmethode entwickelt, die neu auch als Expertenbericht ins Modulstufenkonzept aufgenommen wurde.

Sedimente sind ein wichtiger Bestandteil von Flüssen und Seen. Auf der einen Seite bilden sie einen bedeutenden Lebensraum und filtern das Oberflächenwasser auf seinem Weg ins Grundwasser. Auf der anderen Seite binden sie zahlreiche Schadstoffe wie Metalle, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), polychlorierte Biphenyle (PCB) oder chlororganische Pestizide, die von dort aus aber auch wieder ins freie Wasser gelangen können. So beeinflusst die Sedimentqualität die Qualität des gesamten Gewässers.

Zusammensetzung variiert je nach Belastung

Eine der verbreitetsten Organismengruppen im Sediment sind die Oligochaeten, die zu den Ringelwürmern gehören. Da die Tiere fast unbeweglich sind und als Nahrungsquelle hauptsächlich Feinsedimente aufnehmen, eignen sie sich ideal für die Bewertung der Sedimentqualität. Im Sediment leben zahlreiche Oligochaetenarten, die unterschiedlich empfindlich auf Verschmutzungen reagieren. Daher variiert die Zusammensetzung der Artgemeinschaft als Funktion der Sedimentbelastung. Der Gemeinschaftsindex IOBS (Indice Oligochètes de Bioindication des Sédiments, IOBS), der auf der Artzusammensetzung von Oligochaeten im Feinsediment von Fliessgewässern beruht, gibt das Ausmass von toxischen Belastungen an und ergänzt so die ökologischen Informationen von anderen Bioindikatoren wie dem IBCH für Wirbellose am Gewässergrund und dem DI-CH für Kieselalgen. Der IOBS wurde bereits routinemässig vom Service de l'écologie de l'eau des Kantons Genf und sporadisch von anderen Kantonen (Waadt und Wallis) eingesetzt.

Genetische Barcodes erleichtern Bestimmung

Die Artbestimmung der Oligochaeten unter dem Mikroskop ist jedoch anspruchsvoll. «Ausserdem lassen sich Jungtiere und manche Arten nicht aufgrund ihres Aussehens bestimmen», erklärt Projektleiter Régis Vivien. Doch es gibt einen Weg, dieses Dilemma zu umgehen: nämlich die Nutzung von kurzen DNA-Sequenzen der Tiere zur Bestimmung, sogenannten genetischen Barcodes. Bestimmte DNA-Regionen unterscheiden sich je nach Art. So lassen sich die Arten durch den Vergleich einer solchen DNA-Sequenz mit den Sequenzen in einer Referenzbibliothek bestimmten.

Die Verwendung von genetischen Barcodes kann die Bestimmung der Oligochaeten und die ökologische Diagnose erleichtern. «Der Einsatz von molekularen Methoden klingt aufwändig», sagt Régis Vivien. «Mit Hilfe der Hochdurchsatz-Sequenzierung können wir aber viele Proben gleichzeitig sequenzieren». Die so sequenzierte DNA kann aus verschiedenen Quellen stammen: von einzelnen Tieren, von Mischungen von verschiedenen Tieren oder von Sedimenten. Das Oekotoxzentrum hat eine Methode zur Bestimmung der Sedimentqualität entwickelt, die auf der Sequenzierung von genetisch markierten Einzeltieren beruht. Die Häufigkeit der Arten wird bestimmt und damit der IOBS-Wert berechnet.

Genetische Methode erfolgreich validiert

Die Forschenden haben diesen Ansatz neu in 25 Fliessgewässern in verschiedenen Kantonen der Schweiz validiert. Dafür entnahmen sie aus jeder Sedimentprobe 48 Tiere, extrahierten deren DNA, markierten diese genetisch und sequenzierten sie anschliessend mit hohem Durchsatz. Fast alle Einzeltiere konnten so mit Hilfe der Referenzdatenbank für Oligochaeten der Schweiz (siehe Kasten), die das Oekotoxzentrum entwickelt hat, und von ergänzenden Daten den Arten zugeordnet werden. «Wir haben die Tiere an jedem Standort zunächst genetisch bestimmt und daraus den IOBS-Wert berechnet», sagt Régis Vivien. «Diesen Wert haben wir dann mit dem Wert verglichen, den wir nach der Bestimmung von 100 Tieren unter dem Mikroskop berechnet haben. Die Übereinstimmung war ausgezeichnet und hat gezeigt, dass unsere Methode geeignet ist, um die biologische Sedimentqualität in Fliessgewässern zu bewerten.»

Die Wissenschaftler konnten ausserdem ihre Referenzdatenbank für Schweizer Oligochaeten um 78 neue Arten erweitern, so dass diese inzwischen 184 Arten enthält. Die neue Methode kann bereits jetzt zur Sedimentbewertung eingesetzt werden, die Kosten sind allerdings noch höher als bei der Artbestimmung unter dem Mikroskop. Das Oekotoxzentrum arbeitet momentan daran, die Analysekosten zu reduzieren, unter anderem durch den Einsatz einer alternativen Methode zur DNA-Extraktion.

Metabarcoding-Methoden

Die Forschenden testeten auch zwei einfachere genetische Ansätze mit Oligochaeten aus, bei der die Tiere nicht einzeln identifiziert, sondern als Mischung analysiert werden: Man spricht hier auch von DNA-Metabarcoding. Dieser Ansatz wurde zum einen auf die Gesamt-DNA der pro Standort gesammelten Oligochaeten angewendet, zum anderen auf die gesamte Umwelt-DNA im Sediment.

Auch hier war es möglich, die gefundenen DNA-Fragmente mit Hilfe der Referenzdatenbank und zusätzlichen Daten den einzelnen Arten zuzuordnen und so die Artgemeinschaft der Oligochaeten zu analysieren. Die erhaltenen Daten zeigten eine gute Übereinstimmung mit den Daten, die nach der Bestimmung der Tiere unter dem Mikroskop erhalten wurden. Die Anzahl der Tiere in zwei wichtigen (Unter)familien wurde allerdings stark unterschätzt, so dass die Methoden zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau genug für eine exakte ökologische Analyse sind. Ein Grund dafür könnte die verwendete Methode zur DNA-Extraktion sein. «Wir möchten hier alternative Methoden austesten», sagt Régis Vivien. «Wenn sich die Ergebnisse dadurch nicht verbessern lassen, können wir spezifische Primer für die Oligochaeten entwickeln.» Ausserdem sei die Anwendung von Korrekturfaktoren auf diejenigen Klassen denkbar, die systematisch unter- oder überschätzt werden. «Es lohnt sich, diese Methoden weiterzuentwickeln, da sie vergleichsweise günstig sind und nützlich sein können, um Sedimente mit höherem Durchsatz zu screenen», so Régis Vivien.

Oligochaetenmethoden auf dem Weg in die Praxis

Die hier validierte Methode wurde gerade als Expertenbericht in die Methodenzusammenstellung des Modulstufenkonzepts zur Beurteilung des Gewässerzustands von Fliessgewässern der Schweiz aufgenommen (https://modul-stufen-konzept.ch/). Sie könnte auch die Anwendung anderer biologischer Indizes erleichtern, die zum Beispiel auf Oligochaeten- oder Chironomidengemeinschaften in Seesedimenten basieren oder auf Oligochaeten im Flussbett von Fliessgewässern (Grobsedimente und hyporheische Zone), wo die morphologische Identifizierung der Arten besonders schwierig ist.

Die Functional Trait Methode für die Bewertung von Grobsedimenten mit Hilfe von Oligochaeten erlaubt es nicht nur, die chemische Belastung zu bestimmen, sondern auch den Austausch zwischen Gewässer und Grundwasser und damit die Funktionsfähigkeit des Gewässers.  Mit dieser Methode konnte das Oekotoxzentrum bereits an mehreren Standorten den Effekt von Abwasserreinigungsanlagen auf die Sedimentqualität zeigen. Oligochaeten sind damit vielversprechende Organismen für die Bewertung unterschiedlicher Lebensräume, und die Methoden voraussichtlich bald genügend optimiert, um eine Routineanwendung im breiteren Massstab zu erlauben.

Kasten: Referenzdatenbank für die Schweiz

Nicht alle DNA-Regionen sind zur Artbestimmung geeignet. Für Tiere wird am häufigsten ein ungefähr 650 Basenpaare langes Segment des Mitochondriengens Cytochrom-c-Oxidase (COI) eingesetzt. Mitochondrien-DNA hat eine hohe Mutationsrate, so dass es innerhalb einer kürzeren Zeit – „nur“ Tausenden von Generationen – zu Unterschieden innerhalb und zwischen Populationen kommt. Das Oekotoxzentrum hat eine Referenzdatenbank der COI-Barcode-Sequenzen für aquatische Oligochaeten in der Schweiz erstellt und geeignete Schwellenwerte für genetische Unterschiede ermittelt, um verschiedene Arten zu unterscheiden.

Publikation

Vivien, R., Cermakova, K, Pawlowski, J., Ferrari, B.J.D. 2023. OligoGen : Développement de méthodes oligochètes génétiques pour évaluer la qualité biologique des sédiments de cours d’eau.

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Kontakt

Régis Vivien
Régis Vivien E-Mail Kontakt Tel. +41 21 693 2723

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