22. November 2019, Thema: Aquatische Ökotoxikologie
Nur wenig Östrogene in Europas Flüssen
Untersuchungen mit Biotests haben es gezeigt: Die meisten europäischen Fliessgewässer enthalten keine östrogenen Stoffe in kritischen Konzentrationen. Auch die Schweiz hat sich an dem grossen Monitoringprojekt beteiligt, das vom Oekotoxzentrum initiiert wurde. Alle Schweizer Proben waren unbedenklich.
Östrogen-aktive Stoffe, die sich in den Hormonhaushalt von Tieren oder Menschen einschalten, haben in den letzten 25 Jahren für Aufregung gesorgt: In den 1990er Jahren wurde erkannt, dass sie zur Verweiblichung von Fischen führen können mit verheerenden Folgen für deren Vermehrung. Ein Bericht des Bundesamts für Umwelt kam 2008 zum Schluss, dass solche Chemikalien auch in der Schweiz Spuren hinterlassen haben und einen Beitrag zur Veränderung von Wildtierpopulationen leisten können. Jetzt hat das Oekotoxzentrum ein grosses Monitoringprojekt koordiniert, um einen Überblick über das Auftreten von Östrogenen in europäischen Gewässern zu gewinnen. «Ausserdem wollten wir die Anwendung von Biotests zum Nachweis der Stoffe unterstützen», erklärt Projektleiterin Eszter Simon. Untersucht haben die Wissenschaftler das natürliche Hormon 17β-Estradiol, seinen Metabolit Estron und das künstliche Hormon 17α-Ethinylestradiol.
Niedrige Wirkkonzentrationen fordern heraus
Die untersuchten Östrogene sind biologisch hochaktiv: So wirkt das synthetische Hormon 17α-Ethinylestradiol, das in der Antibabypille enthalten ist, schon in sehr kleinen Konzentrationen von weniger als 1 ng/L auf Wasserlebewesen. Diese niedrigen Wirkkonzentrationen kann man derzeit mit chemischer Spurenanalytik kaum in Wasserproben nachweisen. Auch die Wirkung von Chemikalienmischungen lässt sich mit Einzelstoffanalysen, wie sie in der chemischen Analytik verwendet werden, schwer beurteilen. In der Umwelt gibt es nämlich zahlreiche natürliche und synthetische Östrogene, deren Wirkung sich addiert.
Als Alternative empfehlen sich Biotests. Biotests auf der Basis von genetisch veränderten Zellen können die Gesamtaktivität der bekannten und unbekannten östrogenen Stoffe einer Umweltprobe sehr spezifisch und empfindlich messen. Das Oekotoxzentrum hat bereits in mehreren Projekten Testsysteme auf der Basis von Hefezellen (Yeast Estrogen Screen = YES) oder menschlichen Zellen eingesetzt. Im Mai 2018 wurden zwei unterschiedliche YES-Varianten und ein Testsystem mit einer menschlichen Zelllinie unter ISO zertifiziert und stehen damit für die Bestimmung von Östrogenen in Gewässern und Abwasser zur Verfügung. Das Oekotoxzentrum hat den Zertifizierungsprozess tatkräftig vorangetrieben.
Östrogene nur an Hot Spots?
Die EU hat 17β-Estradiol, 17α-Ethinylestradiol und Estron auf ihre «Watch List» für potentiell schädliche Stoffe gesetzt. Die Stoffe sollen daher regelmässig gemessen werden, um ihr Umweltrisiko besser beurteilen und regulieren zu können. In einem Vorgängerprojekt, hatte das Oekotoxzentrum 2015 und 2016 zahlreiche Fliessgewässer- und Abwasserproben an europäischen Hotspots untersucht: Also an Orten, wo erfahrungsgemäss mit einer besonders hohen Östrogenkonzentration gerechnet werden muss. In dieser Untersuchung fanden die Wissenschaftler in rund der Hälfte der Proben ein ökotoxikologisches Risiko für Wasserorganismen. «Wir wollten jetzt wissen, wie die Situation in durchschnittlichen Gewässern aussieht», sagt Eszter Simon.
Grosse Monitoringstudie erfasst 71 europäische Gewässer
Daher haben die Forschenden in einem Folgeprojekt 71 Proben aus Oberflächengewässern in ganz Europa untersucht: Insgesamt beteiligten sich 14 EU-Mitgliedstaaten und 4 Schweizer Kantone. Die EU-Proben wurden alle an Probenahmestellen entnommen, die für die Gewässerüberwachung im Rahmen der Wasserrahmenrichtlinie verwendet werden. Die Schweizer Proben stammten aus den Kantonen Zürich, Bern, St. Gallen und Thurgau. Ziel der Studie war es, das Vorkommen von östrogenen Stoffen in europäischen Fliessgewässern grossflächig zu erfassen und Monitoringdaten für die EU zu sammeln. Ausserdem sollten zwei standardisierte Biotestsysteme für den Nachweis der Stoffe miteinander und mit der chemischen Analytik verglichen werden.
Als Biotests wurden ein kommerzieller Hefezellöstrogentest (A-YES) und ein Test mit einer menschlichen Zelllinie (ERa-CALUX) eingesetzt. Beide Testsysteme basieren auf der Bindung der vorhandenen Östrogene an den menschlichen Östrogenrezeptor und sind ISO-zertifiziert. Ausserdem wurden die Östrogene in allen Proben mit hochauflösender Flüssigchromatographie gekoppelt mit Massenspektrometrie (LC-MS/MS) charakterisiert. In dieser chemischen Analytik wiesen die Wissenschaftler das potenteste Östrogen – das synthetische Hormon 17α-Ethinylestradiol – nie oberhalb der Bestimmungsgrenze nach. Drei der untersuchten Proben enthielten allerdings 17β-Estradiol und/oder Estron in Konzentrationen oberhalb ihres ökotoxikologischen Grenzwerts von 0.4 ng/L bzw. 3.6 ng/L. Ab dieser Konzentration besteht ein Risiko für schädliche Effekte auf Organismen.
Erfreulich niedrige Östrogenkonzentrationen
Bei der Analytik mit Biotests wird die Konzentration der östrogenen Substanzen als Östradiol-Equivalenzkonzentration ausgedrückt, also diejenige Konzentration des Hormons 17β-Estradiol die ebenso potent wirkt wie die unbekannte Mischung. In den Biotests fanden die Forschenden mit wenigen Ausnahmen ebenfalls eine tiefe Östrogen-Aktivität. „Die meisten Werte lagen so tief unter dem Beurteilungswert, dass sie für Gewässer als unproblematisch eingestuft werden können“, so Eszter Simon. Nur in 4 von 71 Proben wurde im ERα-CALUX eine Östrogenkonzentration gefunden, die den vorgeschlagenen Schwellenwert für östrogene Wirkungen von 0.4 ng/L Östradiol-Equivalenten überschritt; im A-YES waren es 2 Proben. Dies zeigt, dass die meisten Gewässer keine Östrogene in Konzentrationen enthalten, die ein Risiko für Wasserorganismen darstellen. In den Proben aus der Schweiz wurde mit keiner der angewendeten Analysemethoden eine östrogene Aktivität im kritischen Bereich nachgewiesen. Alle Proben lagen unterhalb des Schwellenwerts, die Hälfte der Proben sogar unterhalb der Nachweisgrenze.
„Wir waren sehr erfreut zu sehen, dass die Biotests und die chemischen Analysen so gut übereinstimmten“, sagt Eszter Simon. Auch die Biotests untereinander lieferten weitgehend übereinstimmende Ergebnisse. Beide Tests hatten eine niedrigere Nachweisgrenze als die chemische Analytik. Während mit den biologischen Methoden in 51 Proben Östrogene oberhalb der Nachweisgrenze gefunden wurden, war das mit den chemischen Methoden nur in 19 Proben der Fall. «Die Biotests sind also besonders gut für ein Screening von Wasserproben auf eine östrogene Aktivität geeignet», sagt Eszter Simon. Um die Proben weiter zu untersuchen, die ihre chemische oder biologische Schwellenkonzentration überschreiten, empfiehlt sie eine Kombination von chemischer Analyse und Biotests.