29. November 2016, Thema: Sedimentökotoxikologie Aquatische Ökotoxikologie
Oligochaeten zeigen Sedimentqualität an
Wasserlebende Oligochaeten eignen sich gut für die Bewertung der biologischen Sedimentqualität, aber Schwierigkeiten bei der Artbestimmung hemmen ihre Routinenutzung als Indikatororganismen. Eine Artbestimmung mit Hilfe von genetischen Barcodes könnte dies ändern und die Anwendung der Methode fördern.
Sedimente sind ein ökologisch wichtiger Teil der Oberflächengewässer und können zahlreiche Schadstoffe speichern. Daher überwachen viele Kantone die Sedimentqualität, dies meist mit Hilfe chemischer Analysen. Biologische Analysemethoden werden bis jetzt nur sporadisch verwendet, doch gerade sie lassen Aussagen zur Sedimentqualität und zur Wirkung der sedimentgebundenen Schadstoffe auf Gewässerorganismen zu. So setzt der Kanton Genf zur Sedimentbewertung seit einigen Jahren den biologischen Oligochaetenindex IOBS (indice oligochètes de bioindication des sédiments) ein, der die Artenzusammensetzung und die Anzahl von Oligochaeten im Sediment beurteilt. Diese Artgemeinschaft enthält sowohl Arten, die sehr empfindlich auf chemische Schadstoffbelastungen reagieren als auch solche, die resistenter sind. Ihre Zusammensetzung variiert als Funktion der Sedimentbelastung. Die Artenvielfalt und die Zahl der Individuen jeder Art erlauben eine Beurteilung der Sedimentqualität – so wie bei anderen bekannten Gemeinschaftsindizes (siehe Kasten). Mit Hilfe des IOBS konnte der Service de l’écologie de l‘eau im Kanton Genf die Toxizitätsschwellen für Schwermetalle in Sedimenten ermitteln.
Probleme mit der Artbestimmung
Es braucht jedoch viel Expertise und Erfahrung, um Oligochaeten unter dem Mikroskop zu bestimmen. Viele Arten lassen sich zudem als Jungtiere gar nicht bestimmen, und diese können bis zu 80% der Einzeltiere in einer Probe ausmachen. Die Bestimmung einiger Arten ist erst nach dem Sezieren der Tiere möglich, was sich bei Routineuntersuchungen aus Zeitgründen nicht realisieren lässt. Ausserdem gibt es kryptische Arten, die sich aufgrund ihres Aussehens nicht bestimmen lassen. All dies führt dazu, dass Oligochaeten bis jetzt nicht im grösseren Massstab als Bioindikatoren für die Sedimentqualität gebraucht werden. Dabei wären sie dafür prädestiniert, da sie weitverbreitet sind und bestimmte Arten sehr empfindlich auf Schadstoffe reagieren.
Genetische Barcodes: eine neuer Weg, Arten zu bestimmen
Ein Weg, dieses Dilemma zu umgehen, ist die Nutzung von kurzen DNA-Sequenzen der Tiere, sogenannten genetischen Barcodes, um die Arten zu bestimmen. Bestimmte Gene oder DNA-Regionen sind nämlich artspezifisch. Arten können also durch den Vergleich einer solchen DNA-Sequenz mit den Sequenzen einer Referenzbibliothek bestimmt werden. Die Bestimmung von aquatischen Oligochaeten mit Hilfe von genetischen Barcodes macht es so möglich, alle Oligochaetenarten in einer Probe zu identifizieren.
Nicht alle DNA-Regionen sind zur Bestimmung gleichermassen geeignet. Für Tiere wird am häufigsten ein ungefähr 650 Basenpaare langes Segment des Mitochondriengens Cytochrom-c-Oxidase (COI) eingesetzt. Mitochondrien-DNA hat eine hohe Mutationsrate, so dass es innerhalb einer kürzeren Zeit – „nur“ Tausenden von Generationen – zu Unterschieden innerhalb und zwischen Populationen kommt. Da die Mitochondrien-DNA ausserdem nur von weiblichen Keimzellen an die Nachkommen weitergegeben wird, werden die neuen Mutanten schneller zu Arten und es gibt innerhalb einer Art nur wenig Variationen zwischen den DNA-Sequenzen.
Hin zu neuen genetischen Oligochaeten-Indizes
Das Oekotoxzentrum ist daran, neue Oligochaeten-Indizes zu entwickeln, die sich auf eine Artbestimmung mit Hilfe genetischer Barcodes stützen. „Unser Ziel ist es, damit routinemässig die biologische Qualität von aquatischen Ökosystemen beurteilen zu können“, sagt Régis Vivien vom Oekotoxzentrum. Projektpartner ist das Département de Génetique et Evolution der Universität Genf. Als ersten Schritt hat Régis Vivien mit seinen Projektpartnern die COI-Sequenzen von zahlreichen wasserlebenden Oligochaeten sequenziert, die in der Schweiz gesammelt wurden, und daraus eine Referenzdatenbank angelegt (siehe Abbildung). Bis jetzt konnten insgesamt 68 Abstammungslinien unterschieden werden: Darunter sind auch zahlreiche neue Arten, die sich morphologisch nicht bestimmen lassen.
Es ist aufwendig, die genetischen Barcodes für jedes Einzeltier zu sequenzieren, und daher für Routineanalysen nur dann durchführbar, wenn nicht zu viele Tiere (nicht mehr als 25-50) pro Standort vorhanden sind.. Neue hochdurchsatzfähige Sequenziermethoden, man spricht von Next-Generation Sequencing (NGS), erlauben es jedoch, gleichzeitig zahlreiche Proben zu sequenzieren und machen es so möglich, viele Tiere gleichzeitig anhand ihrer genetischen Barcodes zu bestimmen. NGS kann entweder auf Proben angewendet werden, die eine Mischung verschiedener Oligochaetenarten enthalten, oder direkt auf Sedimentproben.
Hochdurchsatz-Sequenzierung für Oligochaeten
Zunächst sequenzierte Régis Vivien die COI-Sequenz der DNA aus sechs Mischproben von aquatischen Oligochaeten mit NGS. Als Kontrolle sequenzierte er die COI-Sequenz von Einzeltieren der Arten, die in der Mischung vorlagen. Durch einen Vergleich der gefundenen Sequenzen mit der Referenzdatenbank konnten die Tiere bestimmt werden. Fast alle Oligochaetenarten der Mischprobe konnten im NGS wiedergefunden werden. Es war jedoch schwierig, die Daten quantitativ auszuwerten, also anzugeben, wie viele Individuen einer Art die Probe enthielt. Régis Vivien konnte jedoch für die problematischen Arten empirische Korrekturfaktoren bestimmen, die die quantitative Interpretation verbesserten.
Dann verglichen die Forschenden an Oligochaetenmischungen von zehn Standorten den morphologischen Ansatz zur Artbestimmung mit dem kombinierten Ansatz aus genetischen Barcodes und NGS. Die Artzusammensetzung und die Anzahl der Einzeltiere jeder Art wurde für jeden Standort mit beiden Methoden bestimmt und anschliessend der Oligochaetenindex IOBS auf beide Datensätze angewendet. Die ökologische Bewertung auf Basis der beiden Datensätze kam zu ähnlichen Ergebnissen. Diese Ergebnisse eröffnen Perspektiven für eine Routineanwendung genetischer Methoden zu Identifizierung von Oligochaeten. Dabei kann NGS nicht nur mit DNA von Oligochaetengemeinschaften durchgeführt werden, sondern auch direkt mit aus Sedimentproben extrahierter DNA. „Unser Ziel ist es, genetische Oligochaeten-Indizes als Alternative zu traditionellen Indizes für Biomonitoring-Programme von Flüssen und Seen der Schweiz vorzuschlagen“, sagen Régis Vivien und Benoît Ferrari.
Oligochaeten
Oligochaeten oder Wenigborster gehören zu den Ringelwürmern und kommen häufig in Sedimenten von Fliessgewässern und Seen vor. Es gibt zahlreiche Arten mit sehr unterschiedlicher Empfindlichkeit gegenüber Schadstoffen. Sie werden daher in vielen Ländern verwendet, um die ökologische Qualität von Fliessgewässern und Seen zu bewerten.
Bioindizes
Biologische Indizes oder Bioindizes beruhen auf der Beobachtung, dass sich die Zusammensetzung der biologischen Lebensgemeinschaft in einem Gewässer als Funktion der Schadstoffbelastung ändert. Während manche Gewässerbewohner gegenüber Schadstoffen resistent sind, entwickeln sich andere nur in nicht oder gering verschmutzten Gewässern, wobei ihre Toleranzbereiche sehr unterschiedlich sind. Das Vorkommen und die Häufigkeit von Arten erlaubt es, die Sediment- oder die Wasserqualität zu bestimmen. Aus dem Vorkommen und der Häufigkeit von Arten werden Indizes berechnet, die den Grad der Belastung eines untersuchten Standorts angeben. Häufig benutzte biologische Indizes sind der Makroinvertebratenindex (IBCH), der SPEAR Index, der Makrophytenindex (IBMR), der Kieselalgenindex (IBD) und der Oligochaetenindex (IOBS).
Literatur
Vivien, R., Lejzerowicz, F., Pawlowski, J. (2016) Next-Generation Sequencing of Aquatic Oligochaetes: Comparison of Experimental Communities. PLoS ONE 11(2): e0148644
Vivien, R., Lafont, M., Ferrari, B.J.D. (2015) Utilisation des communautés d’oligochètes pour l’évaluation de la qualité biologique et du fonctionnement des cours d’eau : un bilan à partir de données genevoises (Suisse). Arch. Sci. 68: 105-116
Vivien, R., Wyler, S., Lafont, M., Pawlowski, J. (2015) Molecular Barcoding of Aquatic Oligochaetes. Implications for Biomonitoring. PLoS ONE 10 (4) e0125485
Abbildung: Phylogenetischer Baum der COI Sequenzen von aquatischen Oligochaeten auf Basis von in der Schweiz gesammelten Tieren