21. Mai 2024, Thema: Risikobewertung
Wie Mischungstoxizität berücksichtigen? Neue Ansätze für Zulassung und Monitoring
Chemikalienmischungen in der Umwelt stellen Behörden, Forschung und Industrie vor grosse Herausforderungen, denn ihr Risiko lässt sich nur schwer beurteilen. Das Oekotoxzentrum hilft dabei, hier praxistaugliche Konzepte zu entwickeln.
Abwasserreinigungsanlagen, Landwirtschaft, Industrie – in der Umwelt kommen schädliche Stoffe aus verschiedenen Quellen zusammen und können dort Organismen und damit das Funktionieren der Ökosysteme beeinträchtigen. Bis jetzt werden mögliche Effekte jedoch fast ausschliesslich für Einzelsubstanzen bewertet und reguliert – und zwar sowohl bei der Risikobewertung der Stoffe im Rahmen ihrer Zulassung als auch bei der retrospektiven Risikobewertung im Rahmen des Vollzugs und der Umweltkontrolle. Dies reicht aber nicht aus, da die Toxizität von Mischungen grösser sein kann als die Toxizität der Einzelsubstanzen. Toxische Mischungseffekte können auch dann auftreten, wenn alle Einzelstoffe in Konzentrationen vorliegen, die alleine unwirksam sind. Das gilt besonders für Stoffe mit einem ähnlichen Wirkmechanismus wie zum Beispiel für östrogenähnlich wirkende Substanzen. Daher wird international versucht, die Beurteilung von Mischungseffekten zu verbessern – auch das Oekotoxzentrum ist hier aktiv.
Konzentrations-Additivität oder unabhängige Wirkung?
Um die Wirkung von Mischungen vorherzusagen, gibt es zwei grundlegende Konzepte: Bei der Konzentrations-Additivität geht man davon aus, dass sich ähnlich wirkende Stoffe in einer Mischung wie Verdünnungen derselben Substanz verhalten – ähnlich wie alkoholische Getränke mit unterschiedlichem Alkoholgehalt. Um die Mischungstoxizität zu bestimmen kann man die toxischen Einheiten addieren. Bei der unabhängigen Wirkung geht man davon aus, dass die Substanzen über unterschiedliche Wirkmechanismen wirken und man addiert die Effekte. Die Bewertung auf Basis der Konzentrations-Additivität sagt häufig eine höhere Toxizität vorher. und braucht weniger Daten als die Bewertung auf Basis der unabhängigen Wirkung. Um das Vorsorgeprinzip zu berücksichtigen und sicher schädliche Wirkungen zu vermeiden, wird meist von einer Konzentrations-Additivität ausgegangen. «Tatsächlich ist der Unterschied zwischen diesen beiden Modellen in der Praxis meist gar nicht gross», sagt Marion Junghans, Gruppenleiterin für Risikobewertung am Oekotoxzentrum, die sich schon seit mehr als 20 Jahren mit der Vorhersage der Mischungstoxizität beschäftigt. «Oft ist es nämlich so, dass einzelne Substanzen die Toxizität einer Mischung dominieren und viele Stoffe weniger dazu beitragen.»
Umweltqualitätskriterien als Mass für die Gewässerqualität
Für die Berücksichtigung von Stoffmischungen bei der Bewertung der Gewässerqualität hat das Oekotoxzentrum bereits ein Konzept entwickelt [1]. Dieses beruht auf den Qualitätskriterien, die bereits für die Bewertung der Einzelstoffe eingesetzt werden, und erfordert keine weiteren Daten, ist daher sehr praxistauglich.
Meist wird für die Bewertung der Gewässerqualität zunächst chemisch gemessen, welche Stoffe im Wasser nachgewiesen werden können. Anschliessend vergleicht man diese gemessenen Umweltkonzentrationen von Einzelstoffen (measured environmental concentration, MEC) mit den Daten zu ihrer Ökotoxizität. Dazu werden aus den Daten zu den ökotoxikologischen Effekten auf verschiedene Organismengruppen für jede Substanz Umweltqualitätskriterien (UQK) abgeleitet: Dies sind Konzentrationen, oberhalb derer nicht ausgeschlossen werden kann, dass empfindliche Organismen in ihrer Gesundheit, Fortpflanzung und Entwicklung beeinträchtigt werden. Das Oekotoxzentrum hat UQK für mehr als 100 Stoffe bestimmt und stellt sie auf seiner Webseite zur Verfügung [2]. Für einige Pflanzenschutzmittel und Arzneimittel wurden diese Werte bereits als numerische Anforderungen in der Gewässerschutzverordnung verankert, gelten also als gesetzliche Grenzwerte.
Berechnung des Mischungsrisikos durch die chemisch nachgewiesenen Stoffe
Das Verhältnis aus MEC und UQK bezeichnet man als Risikoquotient (RQ). Ist die MEC höher als das UQK, so resultiert ein Risikoquotient RQ grösser als 1, was bedeutet, dass ein Risiko besteht und die Beeinträchtigung von Gewässerorganismen nicht ausgeschlossen werden kann. Man unterscheidet dabei zwischen akuten Qualitätskriterien, die vor dem Auftreten kurzfristiger Effekte schützen sollen, und chronischen Qualitätskriterien, die vor längerfristigen Effekten schützen sollen. Entsprechend werden akute und chronische Risikoquotienten berechnet. Zur Berechnung des Mischungsrisikos werden die RQ der n quantifizierten Einzelsubstanzen addiert.
Da jedoch Stoffe häufig toxisch für eine bestimmte Organismengruppe (Pflanzen, wirbellose Tiere oder Fische) sind, werden für jede Organismengruppe nur die RQ jener Substanzen addiert, für welche die Gruppe eine hohe Empfindlichkeit aufweist. Man spricht hier auch von Bewertungsgruppen. Das Mischungsrisiko für Pflanzen, Wirbellose und Fische wird so getrennt berechnet. Das Gesamtrisiko für das Gewässer entspricht dann dem Risiko der am stärksten betroffenen Organismengruppe mit dem höchsten RQ, die somit das Risiko bestimmt.
Ein gutes Bespiel in diesem Zusammenhang sind Pflanzenschutzmittel: Während Herbizide hauptsächlich ein Risiko für Pflanzen darstellen und Insektizide hauptsächlich für wirbellose Tiere, können Fungizide alle drei Organismengruppen beeinträchtigen. Das Modell wurde bereits erfolgreich auf die Daten der vergangenen NAWA SPEZ Monitoringkampagnen für Pflanzenschutzmittel in der Schweiz angewendet (z.B. [3]). «Wir haben diese Methode mit einer aufwändigeren Methode verglichen, die auf den Wirkmechanismen der einzelnen Stoffe basiert und deutlich mehr Daten benötigt, und vergleichbare Ergebnisse bekommen», sagt Marion Junghans. «Wir sind daher überzeugt, dass dies eine praxistaugliche Methode ist, die gute Resultate liefert.»
Mischungsbewertung für die Zulassung
Aber die Toxizität von Substanzmischungen sollte eigentlich nicht erst bei der Umweltkontrolle berücksichtigt werden, sondern bereits bei der Zulassung von Chemikalien. So können giftige Substanzcocktails schon an der Quelle verhindert werden. Um das Risiko für Gewässerorganismen durch Chemikalienmischungen zu berücksichtigen, haben Experten aus Wissenschaft und Ämtern den Einsatz eines pragmatischen Mischungsfaktors MAF (mixture assessment oder allocation factor) vorgeschlagen, um diese kombinierten Risiken zu berücksichtigen.
Mit dem MAF-Konzept wird die Festlegung von chemikalienspezifischen Grenzwerten so angepasst, so dass nur Konzentrationen zulässig sind, die – zusammen mit den Konzentrationen der anderen erwarteten Stoffe – kein Risiko für Wasserorganismen darstellen. Dies wird erreicht, indem ein zusätzlicher Faktor, der MAF, in den Prozess zur Festlegung chemikalienspezifischer Grenzwerte aufgenommen wird. Die zulässige Konzentration wird dabei um einen Faktor verringert, der der Grösse des MAF entspricht.
Bestimmung des Mixture Assessment Factors MAF
Ein anerkannter Ansatz für die Berechnung des MAF wurde von Thomas Backhaus für die Schwedische Chemikalienagentur entwickelt [4]. Ziel des MAF ist es sicherzustellen, dass der Risikoquotient einer Substanzmischung RQmix, der sich durch Addieren der Risikoquotienten der Einzelsubstanzen ergibt, nicht grösser als 1 wird.
Der MAF ist also ein Faktor, der den erlaubten RQi für jede Einzelsubstanz auf 1/MAF reduziert, so dass der Gesamt-Risikoquotient RQmix stets kleiner oder gleich 1 bleibt. Dabei bleiben die Risikoquotienten der weniger giftigen Substanzen, die sowieso schon kleiner als 1/MAF sind, unverändert. Die anderen Risikoquotienten – und damit die zulässigen Umweltkonzentrationen – werden durch den Faktor MAF reduziert, der dafür wie folgt berechnet wird.
n ist dabei die Anzahl der Chemikalien in einem Gewässer, die als Einzelstoff bewertet einen Risikoquotient ergeben, der grösser als 1/MAF ist. Die RQi sind die RQ für diejenigen Chemikalien, die als Einzelstoff bewertet einen Risikoquotient ergeben, der kleiner als 1/MAF ist, deren Konzentration in der Umwelt also nicht noch stärker verringert werden muss.
Die Gleichung zeigt, dass der MAFKEMI direkt von der Anzahl derjenigen Chemikalien abhängt, deren Konzentration ihren revidierten Grenzwert überschreitet (n), und auch von der Summe der RQ-Werte für die Chemikalien mit Konzentrationen unterhalb der jeweiligen überarbeiteten Grenzwerte beeinflusst wird. Wenn in einem Gemisch mehrere Beurteilungsgruppen vorhanden sind, wird der MAF für jede Gruppe bestimmt und der grösste MAF für das Gemisch verwendet. Dieser Wert wird normal annäherungsweise mithilfe eines Algorithmus berechnet. Das Oekotoxzentrum hat eine vereinfachte Berechnung mitentwickelt, die sich ohne dessen Verwendung durchführen lässt [5]. Der MAFKEMI steigt mit der Anzahl der Substanzen in der Mischung an, weil er eine worst-case Annahme zur Verteilung der Risikoquotienten für die Substanzen mit einem relevanten Beitrag zum Mischungsrisiko macht: Er nimmt an, dass alle diese Stoffe denselben Beitrag leisten.
Einzelne Substanzen sind besonders toxisch
Oft sind allerdings einzelne Chemikalien für den grössten Teil des Risikos einer Mischung verantwortlich. Das Oekotoxzentrum hat daher den KEMI MAF Ansatz noch weiter verfeinert, indem es zusätzlich den maximum cumulative ratio oder MCR berücksichtigt. Die MCR ist definiert als das Verhältnis aus dem Gesamtrisiko der Mischung (RQsum) und dem Risikp, das durch die giftigste Einzelsubstanz (RQmax) verursacht wird. Es gilt dann
mit
Die Berechnung des MAFKEMI MCR ergibt meist kleinere Werte als die des MAF KEMI, da sie berücksichtigt, das es Einzelstoffe gibt, die für einen grösseren Anteil des Risikos verantwortlich sind. Es gibt nur noch eine geringe Abhängigkeit von der Anzahl der Substanzen in der Mischung. Der MAFKEMI MCR ist also nur so protektiv wie unbedingt notwendig und zeigt an, welche Stoffe in Mischungen ein Problem darstellen könnten.
Ein Vorteil des MAF-Ansatzes ist, dass der Schutz vor der Gefahr durch Chemikalienmischungen in das Risikomanagement der Einzelchemikalien integriert wird. So ist keine separate kumulative Risikobewertung erforderlich. Ein Nachteil des MAF-Ansatzes ist allerdings, dass die kombinierten Risiken für Wasserorganismen sich je nach lokaler Population unterscheiden können, aber für alle Populationen jeweils nur ein MAF-Wert verwendet wird. So führt jeder MAF-Wert zu einer Überregulierung in einigen Gewässern und einer Unterregulierung in anderen. Ob die Überregulierung oder die Unterregulierung dominiert hängt davon ab, welches Perzentil der MAF-Verteilung man wählt. Bei einem hohen Perzentil ist der Schutz der Umwelt höher.
Blick in die Zukunft
Das Oekotoxzentrum arbeitet momentan daran, verschiedene mathematische Modelle zur Berechnung des MAF zu vergleichen und mit grossen Datensätzen aus sowohl nationalen (NAWA SPEZ) als auch internationalen (z.B. NAIADE aus Frankreich) Monitoringprogrammen zu vergleichen und zu validieren. Ausserdem erweitert es die Bewertungsgruppen, die zur retrospektiven Bewertung der Gemischtoxizität eingesetzt werden.
Bis jetzt wird der vom Oekotoxzentrum entwickelte Ansatz zur Berücksichtigung von Stoffmischungen bei der Gewässerbewertung auf direkte Effekte für Algen, wirbellose Tiere und Fische und auf Sekundärvergiftungen angewendet. Neu soll der Ansatz auch auf die Toxizität für Sedimentorganismen, die menschliche Gesundheit über den Konsum von Trinkwasser und die menschliche Gesundheit über den Konsum von Fischereiprodukten ausgeweitet werden. «So möchten wir dazu beitragen, dass Stoffgemische auf allen Ebenen besser berücksichtigt werden können», sagt Marion Junghans.
Literatur
[1] Junghans, M., Kunz, P., & Werner, I. (2013). Toxizität von Mischungen. Aktuelle, praxisorientierte Ansätze für die Beurteilung von Gewässerproben. Aqua & Gas, 93(5), 54-61
[3] Langer, M., Junghans, M., Spycher, S., Koster, M., Baumgartner, C., Vermeissen, E., & Werner, I. (2017). Hohe ökotoxikologische Risiken in Bächen. NAWA SPEZ untersucht Bäche in Gebieten mit intensiver landwirtschaftlicher Nutzung. Aqua & Gas, 97(4), 58-68
[4] KEMI (2015) An additional assessment factor (MAF) – a suitable approach for improving the regulatory risk assessment of chemical mixtures? Swedish Chemicals Agency, Stockholm, Article 361159, Report 5/15
[5] Price, P. S., & Junghans, M. (2023). Assessing the KEMI approach for determining the size of mixture assessment factors needed to protect aquatic receptors from chemical mixtures in surface waters. Current Opinion in Toxicology, 36, 100426 (6 pp.)